Distanz
Hier stehe ich auf meiner Klippe
Weit schweifen meine Blicke
Über dieses tiefe, große Tal
Drüben sendet jemand ein Signal
Was wollen die mir denn damit sagen
Irgend etwas scheint die wohl zu plagen
Na ja, die da drüben sind so weit entfernt
Ihre Sprache habe ich nie gelernt
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Sie anzuhören – das gibt nur Frust
Zwischen uns fließt die Ignoranz
Eine Brücke bauen aus Toleranz?
Diese Schlucht vor mir ist so tief und breit
Der Abstand zur anderen Seite ist so weit
Ich kann hier immer sehr bequem stehen
Und muss nicht das ganze Elend sehen
Euch da drüben geht es wohl sehr schlecht
Das Leben ist sehr oft nicht ganz gerecht
Ich bin geistig fit, gesund und stark
Ich gestalte mein Leben ganz autark
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Euch näher anzusehen – das gibt nur Frust
Egoismus versperrt den Weg nach da drüben
Sollte ich nicht Nächstenliebe üben?
Dieser Canyon vor mir trennt sehr wirkungsvoll
Was nach meinem Willen auch so fern bleiben soll
Alles, was ich nicht sofort verstehe
Alles, was ich als fremd ansehe
Alles, was mich in meinem Umfeld stört
Alles, was nicht in mein Weltbild gehört
All dies habe ich ausgeschlossen
Mein Herz habe ich fest verschlossen
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Mich zu öffnen – das gibt nur Frust
Ich lasse gerne meine Scheuklappen auf
Und nehme auch Menschenverachtung in Kauf
Ach, ist das ein Elend hier auf meinem Standpunkt
Von da drüben werde ich ständig um Hilfe an gefunkt
Ja, soll ich denn allen ein offnenes Ohr anbieten
Und seien es auch die größten Nieten
Soll ich jeden unterstützen, den ein Leiden plagt
Oder den hier – der ist doch nur betagt
Alles, alles muss ich hier ertragen
Irgendwann platzt mir doch der Kragen
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Mir das anzutun – das gibt nur Frust
Ich möchte einfach weiter unbehelligt sein
Schreibt eure Probleme doch auf den Krankenschein
Was soll dieses Gerede von euch bedeuten
Beispielschicksale von anderen Leuten
Denen plötzlich das andere Ufer sehr nahe kam
Weil sie eine Krankheit aus dem Luxus nahm
Die plötzlich geliebte Menschen verloren
Oder denen ein krankes Kind geboren
Sie aus allen Lebensträumen riss
Und sie auf die andere Seite schmiss
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Mir so was anzuhören – das gibt nur Frust
Mich betrifft das nie, weil ich der Beste bin
Seit jetzt ruhig, ich höre einfach nicht mehr hin.
Ich genieße den Abstand zur anderen Seite sehr
Gerne noch einige Entfernungskilometer mehr
Je weiter weg, desto schlechter wird das Bild
Umso besser wirkt jetzt auch der Abwehrschild
Der mich in meiner Welt vor euch beschützt
Die ihr nur meine Kraft ausnützt
Die ihr nur an mein Gewissen appelliert
Weil ihr mal wieder im Leben verliert
Und überhaupt habe ich auch keine Lust
Das weiter zu zulassen – das gibt nur Frust
Ich bleibe weiter auf mich fixiert
Egal, was auch mit euch passiert.
Dieses Gedicht habe ich vor einigen Jahren geschrieben. Leider wird die "Distanz", die ich hier beschreibe, immer größer.